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Der Wanderer und die Mittagsfee

Übersetzung: Thomas Klein, Werner Widrat

Die Sonne sinkt ins Meer, darin ihre Farben von glut— bis purpurrot zerfließen. Die Wasseroberfläche spiegelt sich am Firmament, die Hälfte davon nimmt alle satten Zinnobertöne an.

Ein Wanderer am Steilufer — vor sich einen Tisch — betrachtet den überwältigenden Sonnenuntergang über den sanft plätschernden Wellen des Meeres, sein Gesicht im Widerschein einer gigantischen Feuersbrunst. Sonnengebräunt scheint es jetzt das Ergebnis eines rotfarbenen Bronzeabgusses.

Unbeweglich steht er und ist eine Erscheinung, die Kraft und Anmut in sich vereint, Würde, Edelmut und kontemplative Ruhe ausstrahlt.

Als die Farben des Abendrots ermatten, etwa so, wie die Glut des Kohlefeuers erlischt, wenn sie von der Asche verzehrt ist, löst er die über der Brust gekreuzten Arme und bricht langsam zum Abstieg auf, hinunter zum Fuß des Felsmassivs, wo wild der Wald ausschlägt, den nun der dunkle Flor der Dämmerung deckt.

Der Wanderer möchte von seiner endlosen Reise ausruhen. Dazu läßt er sich in dieser Gegend nieder und findet treue Freunde hier, im übrigen nicht nur Freunde, zumal die Welt über die Maßen unsicher, vielgestaltig und voller Gefahren ist. Gefahren wohl eher für andere, für ihn kaum.

Bei seinem Abstieg balanciert er geschickt zwar, bald aber gefährlich überm Abhang, bald springt er von einem Stein zum andern, bald schirmt ihn das Dach des Waldes. Auf einer von hohem Gras überwucherten Lichtung bleibt er stehen und entscheidet, hier sein Nachtlager aufzuschlagen direkt auf den biegsamen saftigen Grashalmen, die ihn mit ihrem intensiven Duft umfangen und seine Nasenflügel weiten, nebst dem starken Erdgeruch des Bodens, aus dem sie sprießen. Er senkt den Kopf und läßt diesen Geruch tief in seine Lungen dringen. Nur scheinbar dünkt ihn die ganze Umgebung durch nichts verändert. Minuten später schlagen seine Gefühle auf eine zarte Berührung an, und er kann nicht umhin aufzuhorchen. Er irrt nicht, da er am äußersten Rand des Dickichts eine gertenschlanke Figur ausmacht. Heute scheint sie fast durchsichtig, aus Nebel-, aus Mondlichtgarn gewebt. Sicher verwischt das nächtliche Halbdunkel ihre scharfen Konturen.

«Verschwinde!» sagt er zu ihr.

Erschrocken wendet sie ihren Blick der Tiefe des Waldes zu und stammelt nervös: «Ich kann nicht… Ich fürchte mich. Laß mich hier bei dir bleiben».

«Verschwinde von hier, hab' ich gesagt!», herrscht er sie zornig an.

«Ich flehe dich an!», fängt ihre Stimme an zu zittern. «Ich komm' dir auch nicht zu nahe, geb' dir keinen Anlaß zur Beunruhigung. Ich setz' mich einfach bloß hier hin. Wenn du’s denn erlaubst?!»

Selbst im Halbdunkel gewahrt er in großen Augen, die voller Tränen hängen, ihre schiere Verzweiflung.

«Bitte… bitte…, sei barmherzig, edelmütiger Rao-téj. Oder ist auch dein Herz schon grausam verhärtet?! Wo dann findet man noch Barmherzigkeit?»

Er zieht die Stirne kraus, sein Blick macht sie zittern. Hängt sie ihm wirklich schon den ganzen Tag an den Fersen? Ihr Körpergeruch war ihm vergangene Nacht in die Nase gestiegen, als er jemandes Versteck im Astgeflecht und Blattwerk der Lianen aufspürte. Zwischendurch drang sogar das Geräusch von jemandes Atem an sein Ohr. Aber erst am Morgen entdeckte er, als er irgendwo in seinem Rücken etwas rascheln hörte und in diese Richtung sah, ihr fahles Gesicht, das zwischen den Blättern und Zweigen für einen Moment hervorlugte und sogleich zurückwich. Das nicht zuletzt unter dem noch kurze Zeit fortwährenden Rascheln und Wehklagen wie auch der Mühsal durch das seine wettergegerbte Haut peitschende Geäst und Gezweig, ohne daß er Spuren davonträgt, während dies Wesen aus Luft rein gar nicht für diese Art Gang durchs Waldesdickicht geschaffen ist. Im übrigen geht ihm jedwedes Mitgefühl ab, wo er um der Mittagsfeen Verstellung, Falschheit, Gewissenlosigkeit und grenzenlosen Egoismus weiß. Sie erinnern sich nicht an das Gute. Eine gebende Hand vermöchten sie anzunehmen und gleichwohl zurückzuweisen samt der Gabe. Er kann nicht mehr sagen, ab wann sie zurückgefallen und folglich ihm sämtliche Gedanken an sie entfallen sind.

Da steht sie nun also einige wenige Schritte von ihm entfernt, ihr Blick auf die dunkle Wand des Dickichts geheftet.

, Wie mag sie wohl die zurückliegende Nacht überstanden haben? Und wird ihr auch ein zweites Mal solch Glück beschieden sein?‘

«Vergebens bemühst du dich um meinen Beistand.»

«Tu' ich nicht… Wer, Wandrer, würde es denn wagen, sich dir in unredlicher Absicht zu nähern?»

Damit hat sie nicht unrecht, fühlt sie sich doch in seiner Gegenwart vollkommen in Sicherheit und geborgen. Er indes vergräbt den Kopf schweigend in den Händen, sie steht noch eine Weile da und setzt sich still etwas abseits hin.

Zwei-, dreimal wird er wach, und jedesmal fallen ihm ihre schlaff herunterhängenden schmalen Schultern auf. Sie verharrt die ganze Zeit in derselben Stellung, in der sie ins Gras gesunken ist. So sitzt sie noch immer da, die Beine angezogen. Dann weckt ihn ein Verzweiflungs— und Schmerzensschrei. Er wirft den Kopf nach oben und sieht, wie sie aufspringt und auf ihn zustürzen will, unvermittelt aber innehält, als fürchte sie, sich ihm zu nähern und einen Platz neben ihm einzunehmen. Ihr Gesicht ist blaß - ja blau angelaufen — und zur Hälfte von weitaufgerissenen Augen dominiert, die sie nicht von dem Dickicht abwendet. Der aus unbestimmter Richtung gekommene Schrei von vorhin klingt ihm in den Ohren noch immer nach. Plötzlich verengt sich sein auf sie gerichteter Blick, und er erkennt, wie weit man schon durch ihren Körper hindurchsehen kann und dieser langsam alles Leben auszuhauchen scheint.

«Tritt näher», tönt seine Stimme etwas laut und schroff, wovon sie am ganzen Körper erbebt.

Sie rührt sich nicht vom Fleck, als wäre sie angewurzelt, und starrt unverwandt nur ihn aus angsterfüllten Augen an.

«Wenn du so eine Angst vor mir hast, was schwirrst du dann schon den zweiten Tag hier herum wie eine lästige Schmeißfliege?»

«Ich habe keine Angst», stammelt sie hastig und tritt einen Schritt auf ihn zu, wie zur Bestärkung der eigenen Worte oder aber Versperrung aller weiteren potentiellen Auswege. Sie bleibt kurz vor ihm stehen, ihre schmalen Schultern hängen vor lauter auswegloser Ergebenheit an ihr herunter.

Mit ausgestreckter Hand und festem Druck ergreift er ihr Handgelenk und zieht es an sich.

Taumelnd sinkt sie ins zertretene Gras neben ihn, für sich, um aus Verzweiflung und Angst eine gegenseitige Berührung zu vermeiden. Verschmitzt lächelnd rückt er näher an sie heran. Ihr Körper ist so kalt, daß er meint, ein Eiszapfen streife geradewegs sein Herz. Er löst sein Haar, daß es wie ein warmer Mantel ihre Schultern umschließt.

«Danke» bewegen sich ihre Lippen, des Wortes Klang hat die Anmutung eines leichten Hauchs ihres Atems, wie wenn er an ihrer Brust rührte.

«Schlaf.»

Ihr Kopf liegt auf seiner Schulter, die elastisch geringelten Locken kitzeln ihn am Kinn, doch versagt er sich jedwede Bewegung. Darauf schläft er schließlich ein und, ohne ein einziges Mal aufzuwachen, bis zum Morgen durch.

Bequem zusammengerollt liegt sie mit dem Rücken an ihn geschmiegt warm und kuschelig wie ein Katzenjunges bei der Katzenmutter. Läge sie nicht auf seinem langen Haar, würde er sich auf— und davonmachen, so aber bleibt er bei ihr liegen und betrachtet sie. In den zwei Tagen ihres Irrens durch den Wald hängt die Hälfte ihres Kleides nun wohl an den spitzen stachligen Zweigen und Ästen der Bäume, während ihre schäbigen Lumpen, die ihr gerade noch über eine Schulter herunterbaumeln, eher dürftig ihren Körper verhüllen. Woraus ist der Stoff ihres seltsamen Kleides gewebt? Derartiges ist ihm bisher nicht vorgekommen. Und ist das überhaupt eine Art Stoff? Zuweilen ist man geneigt zu glauben, die Grundlage dafür bilde eine hauchdünne Spinnwebe, darin der Duft von Blumen, die Kühle des Morgentaus von den Grashalmen und das Lichtgeflunker aus den Tiefen der Perlmuttgrotten eingewebt sind. Sein unverwandt zudringlicher Blick schreckt sie in ihrem leichten morgendlichen Schlaf auf, was ihm klar wird, als er hört, wie sich ihr Atem verändert. An der Schulter dreht er sie zu sich heran — da starrt ihn aus weitgeöffneten Augen der Inbegriff des Kosmos an, eben kein schwarzer, sondern ein dunkelblauer Abgrund, durchsetzt von funkelnden Fixpunkten wie von blinkenden fernen Sternen. Er sieht bis ganz nach unten, in dem Moment bedeckt sie mit schmächtiger verkrampfter Hand ihre Blöße.

«Ist es nicht seltsam», lächelt er ihr zu, «daß dein Gewand nur noch lauter Fetzen sind, du selbst am Körper aber keine Kratzspuren hast?».

«Ahnst du denn nicht», flüstert sie beinah, «daß du allein mich geheilt hast?» Ihre Augen irren umher. «Aber hast du mich denn nicht gerufen und mir das Leben gerettet?! Nimmt man erst jemandes Hilfe an, um sich dann an jemand anderm zu wärmen? Das ist doch absurd!»

«Ja, ja, versuch nur, mir weiszumachen, daß Mittagsfeen neuerdings keine Vampire mehr sind!»

Ihr Blick schweift ab, von ihrer Stimme ist nur ein leises Raunen zu hören: «Ich hab' von dir nur das genommen, was du mir gegeben hast!!! «Wieso bist du allein? Ich hab' gehört, ihr könntet nur im Schwarm überleben.»

«Das stimmt. Selbst eine Familie geht außerhalb zugrunde. Aber frag mich nicht. Die Wahrheit kann ich dir nicht sagen. Und belügen mag ich dich nicht.»

«Hm, und das aus dem Mund einer Mittagsfee, des falschesten Geschöpfs auf Erden überhaupt! Also gut. Die Nacht ist vorbei, geh und such deine Sippe.»

«Rao-tej!», springt sie auf, aber nur bis auf die Knie, «ich kann nicht zurück zu den Meinen! Erlaub mir, daß ich bei dir bleibe!»

Hernach ist ihm völlig schleierhaft, wie er ihr das gestatten konnte.

, Daran ist nur das Licht schuld, das so blaue verzaubernde aus ihren Augen. Ganz benommen muß ich gewesen sein von meinem Mitleid für eine so nichtswürdige Kreatur.‘

Vielleicht auch deshalb hielt er den Schmutz, in dem sie watete, nicht dafür, sondern für angetrocknetes, verkrustetes Blut. Die Kratzspuren und blauen Flecke sind über Nacht verschwunden, doch die Blutspuren an ihren Händen, in ihrem Gesicht noch da und lugen durch ihr arg zerschlissenes Kleid, ihre nackten Füße und winzigen Sohlen sind noch voll davon.

Ihm wieder dicht auf den Fersen hat sie Mühe, mit ihm schrittzuhalten, obwohl er langsamer geht als für gewöhnlich. Zwischendurch bleibt er immer mal stehen, um sie wieder herankommen zu lassen. Wohin hat er es so eilig? Als er einen Seufzer vernimmt, verlangsamt er seinen Schritt, geht zurück und sieht sie vor Schmerz sich krümmend hastig dahinhumpeln, ungelenk den einen Fuß zur Seite hin absetzen und das vorjährige Laub mit dem Blut aus ihrer Ferse, die sie sich an einem spitzen Stein aufgerissen haben muß, fleckig einfärben. Unter Flüchen nimmt er sie auf die Arme und wendet sich zu dem nahegelegenen See.

Anfangs schweigt sie, dann fragt sie schuldbewußt: «Bin ich dir zu schwer?».

Ihm ist zum Lachen zumute — ist sie doch nach allem wie ein Falter so leicht, der sich auf seine Schulter niederläßt. Als sie das ins Gras sprießende Ufer erreichen, hat sie ihre Wunde anscheinend vergessen. Die tiefe Schürfwunde ist gut vernarbt. Sie tritt ans Ufer heran, will mit beiden ausgestreckten Händen Wasser schöpfen und schrickt zurück:, Was denn? Das soll ich sein?! So eine Pestbeule?!‘, wird sie plötzlich vor Lachen geschüttelt. Sie plantscht im Wasser und lächelt still irgendwem zu. Blinzelnd — mit erhobenem Kopf — reckt sie ihr Gesicht in die Sonne und taucht ein ums andere Mal unter. Dabei glänzt sie wie ein Fisch im Wasser.

Er sieht ihr dabei zu und wundert sich über ihr Federgewicht.

Wie ist es möglich, daß sie ihren Schmerz vergißt, ihre Angst und Kümmernis? Vergangene Nacht, als sie aus dem Dickicht zu ihm heraustrat, war sie völlig erschöpft, halbtot, mit unzähligen Wunden überzogen, alles Leben gespenstisch ausgehaucht. Will sie das denn gar nicht wahrhaben? Oder schätzen Mittagsfeen das Leben so gering? Als sie nun ans Ufer tritt, breitet sie ihre Flügel und schüttelt die Wassertropfen ab. Da bemerkt sie seinen sie prüfenden Blick. Durch den leichten nassen Stoff, der ihr am Körper klebt, sieht er sie erröten. Sie stürzt sich ins Gestrüpp, das schon fast ins Wasser ragt. Lange bleibt sie weg, als aber Schritte zu hören sind, hebt er den Kopf und muß unwillkürlich lächeln:, All die Risse, Löcher sind gestopft und zugenäht mit langen Grashalmen statt Nadel und Faden. Ob seines Lächelns strahlt sie übers ganze Gesicht als Zeichen wohlwollender Zustimmung.

«Wie heißt du?»

«Ittíl» sagt sie leise, ähnlich dem Klang eines kristallenen Glöckchens oder auf die Wasseroberfläche auftreffender und helltönend zerspringender Tropfen. Noch unentschlossen setzt sie sich zögernd neben ihn.

«Warum benutzt du nicht deine Flügel, wo du doch so schlecht zu Fuß bist?»

«Im Wald versagen die ihren Dienst. Wir ziehen ja die Weiten der Wiesen und Auen vor, die mit Sonne und Himmel reichlich gesegnet sind. Im Wald ist es feucht und schwül, die Luft so schwer…, daß man da unmöglich fliegen kann. Das ist wie in seimigem Morast schwimmen.»

«Wenn das so ist, warum gehst du dann nicht weg von hier? Du brauchst doch nur bis über alle Gipfel in die Höhe aufsteigen, und dort hast du die Weite, Sonne und alles, was das Leben bereithält.»

Darauf reagiert sie etwas abgestumpft und schaut ihn schweigend und flehend an. Rao-tej schließt mit nachgiebiger Miene die Augen und dringt nicht weiter in sie.

Nach geraumem Schweigen fragt sie ihn leise: «Darf ich dir dein Haar flechten?»

Mit auf die über Kreuz verschrenkten Arme gesenktem Kopf lauscht er darauf, wie zarte schlanke Finger sich sanft durch die dichten Locken seines Haars graben, indes so behutsam, daß sie ihm nicht ein einziges Haar krümmen und es nicht ein einziges Mal ziept. Vergleichbare Empfindungen sind ihm neu, er gibt sich ihnen hin und fällt in einen angenehmen Dämmerzustand, stellt jegliche Bewegungen, jedwedes Denken, Sprechen ein. Wie gemächlich seine Bewegungen auch sind, alles geht einmal zu Ende, sie ist verstummt und hat ihre Hände in den Schoß gelegt.

«Wie bist du doch schön, Wanderer», hebt sie wieder an zu sprechen. «Ich kenne niemanden, der schöner wäre als du!!!»

Im Verklingen dieser Worte gleitet ihre flache kühle Hand ihm über Schulter, Rücken und Wirbelsäule. Ihm ist, als ströme da etwas aus ihren Fingerspitzen und als bekomme er davon eine Gänsehaut, die ihm innerlich durchdringend tiefe Wallungen verursache.

Er kehrt ihr schroff den Rücken zu, sie weicht von ihm ab, als habe sie sein unwirscher Blick wie der Blitz getroffen.

«Sei mir nicht böse! Ich hab' mich vergessen… Das kommt nicht wieder vor!»

«Was kommt nicht wieder vor?»

«Daß ich dich berühre. Was siehst du mich so an…, es tut mir weh…», wird sie ganz fahl im Gesicht.

Rao-tej faßt sie behutsam am Handgelenk und führt es an sein Gesicht. Mit geschlossenen Lidern gibt er sich diesem Gefühl hin, das ihm die sanften Strahlen der angenehm wärmenden Sonne beim Auftreffen auf Wangen, Schläfen und Lippen verschaffen. Bei einem Blick in die Höhe sieht er den undurchdringlichen Saum einer Baumkrone.

«Wie machst du das bloß?»

«Was?» zuckt sie verstört mit den Schultern.

«Du bittest darum zu verzeihen und versprichst, mich nicht mehr zu berühren. Warum?»

«Na, weil du es nicht magst und verärgert bist.»

, Nicht mag… Als ob jemand dieses von zärtlichem Streicheln herrührende Mattigkeitsgefühl als unangenehm empfinden könnte!'

Nun, er weiß es nicht. Rao-tej hat so etwas bisher noch nicht erlebt, sein Körper dennoch auf diese stille Liebkosung reagiert, daß ihm das Blut in den Adern kocht.

«Ittil — was machst du mit mir?»

Sie weicht zurück, er aber hält sie fest. Der Ausdruck tiefen Mißtrauens in ihren Augen entgeht ihm, als er sie an seine Wange schmiegt, keineswegs. Sie umfängt seinen Kopf, er spürt das Beben ihrer Halsschlagader und küßt sie auf die Lippen. Es überläuft sie ein Schauder, wovon er aufblickt, von dem Schmerz und Kummer in ihrem Gesicht gleichsam frappiert ist. Dessen ungeachtet drückt sie ihm derweil hastig lockere Küsse auf Augen, Stirne, Wangen, daß es ihn wie glühende Pfeile durchbohrt und sein Körper von einem unbeschreiblichen süßen Rausch erfaßt wird. Seufzer und heftige Umarmungen ihrerseits erstickt, nein beantwortet er mit einem ebenso heftigen ausdauernden Kuß. Der Liebestaumel treibt sie zur Ekstase und droht sich in einem völligen Kontrollverlust zu entladen und darin, daß sie von ihren so befeuerten Leidenschaften überwältigt werden. Plötzlich wird ihm schwarz vor Augen, da er meint, mit jedem Schlag ihrer silbernen Flügel fielen gleich mehrere Ittilen auf ihn herab und über ihn her.

Im nächsten Moment geht ihm ein Licht auf, daß das ihr ureigenstes Wesen ist. Aber die eine echte Ittil begehrt er nach allem wie niemanden sonst oder vorher. Er versucht noch aufzuspringen, um ein Wollknäuel abzuschütteln, doch knicken ihm die Beine weg, im Gefolge eines überbordenden Schwächeanfalls. Schwerelose Mädchenkörper hängen an ihm wie ein Steinblock und zwingen ihn in die Knie. Er begreift inzwischen gar nicht mehr, was sie mit ihm treiben.

Sie trinken ihn förmlich aus, ganz und gar, in einer Wolke, die in ihrer Leichtigkeit mit allen Regenbogenfarben aufwartet. Genauso umfaßt auch das vielstimmige helle Lachen, das langsam verhallt und schließlich verstummt, das gesamte Klangspektrum.

Mit ausgebreiteten Armen liegt Rao-tej auf dem Rücken und schaut in den blauen wolkenlosen Himmel. Der dunkelt auf für ihn seltsame Weise ein, und weit oben in den allerhöchsten Höhen desselben gehen mit einemmal alle Sternenlichter an und senden sich langdehnende Strahlen zu ihm herab. Wenn eine Mutter bei der Rückkehr des Sohns aus langer Wanderschaft ihm zur Begrüßung beide Arme entgegenstreckt, bietet sich ein ähnliches Bild. Da sein Kraftquell aber versiegt ist, vermag er diesem Ruf nicht zu folgen, so unsagbar schwer lastet diese Welt auf ihm.

Plötzlich versperrt ihm Ittils Gesicht die Sicht darauf und vergällt ihm ob solchen Trugs und Verrats bitter diese letzten Momente bei klarem Bewußtsein. Immer unausweichlicher überkommt ihn der Schlaf, traumlos und allzu ruhig, daß er die Augen schließt, um das herrliche, das letzte Trugbild von vorhin, so lang als möglich festzuhalten. Als schließlich die letzten Töne dieses zufriedenen Lachens verhallen, läßt sich Ittil aus ihrer dichten Baumkrone zu dem im Gras ausgestreckten Wanderer herab. Sie kniet vor ihm und drückt ihm einen Kuß auf den Mund. Des Wandrers Brustkorb hebt sich ein weiteres Mal, die Schläfen beben, und noch einmal bekommt er sie zu sehen. In seine nebulöse Wahrnehmung sickert ein trüber Gedanke:, Meinetwegen! Soll sie meinen letzten Atemzug haben!‘ Und vielleicht ja wegen ebendieses Gedankens seufzt er aus voller Brust und noch ein zweites und auch ein drittes Mal. Ittil unterbricht ihren Kuß aber nicht.

Hier schäumt er vor Wut und ertrinkt beinah in einer Welle angestauten Grolls:, Dieses gemeine Geschöpf war die Lockspeise, auf daß ich in die von Vampiren aufgestellte Falle gehe! O ihr Götter, wie ist sie doch falsch!‘

Seine Kräfte reichen gerade noch hin, sie von sich zu stoßen. Sie rollt schweigend durchs Gras zum See hinunter und bleibt kurz davor regungslos liegen. Von hier aus schaut sie ihn aus großen blauen, in dem kreidebleichen Gesicht völlig schwarz wirkenden, Augen an. Die Tränen darin entgehen dem Wanderer nicht.

«Warum?» atmet er aus. «Wieso hast du mich dieser Meute überlassen?»

Um seine Mundwinkel zuckt es gewaltig, Ittil schlägt nur ihre Lider nieder, ihre Tränen fallen in großen Tropfen ins Gras. Rao-tej scheint in einer Art Halbschlaf oder Teilbewußtlosigkeit abwesend nicht zu bemerken, wie sich Ittil wieder an ihn heranpirscht. Als er wieder zu sich kommt, spürt er ihre kühlen Hände auf Stirne, Wangen und möchte wiederum alles vergessen, einfach nur daliegen und ihre Berührungen genießen. Doch holt er mit flacher Hand nach ihr aus, worauf er ihren Aufschrei vernimmt.

«Bitte nicht! Jag mich nicht fort!», verrät die gefurchte Stirn, daß sie aufrichtig leidet. «Ich kann dir das geben, was du brauchst. Warum nimmst du es nicht an? Dann geh' ich schon von ganz allein wieder.»

«Was denn?»

«Mein Leben. Nimm es ganz. Ich möchte nicht, daß du stirbst.»

Demnach hat nicht sie den letzten Atem abgezogen, sondern vielmehr ihm den ihrigen abgetreten. In der Tat spürt er diesmal eine noch stärkere Schwäche aufkommen, die aber noch immer nicht tödlich zu sein scheint.

«Sag irgendwas zu deiner Rechtfertigung!»

«Nein» schüttelt sie mit gesenktem Blick den Kopf.

«Dann erklär es mir.»

Sie zögert und bringt nach großer Überwindung hervor: «Ich bin eine von den Jüngeren. Für mich gilt ausschießlich das Gesetz des Gehorsams, weiter nichts. Wenn ich mich dem widersetze, strafen sie mich dafür und meine ganze Familie gleich mit. Und ein Ausschluß aus der Sippe kommt so oder so einem Todesurteil gleich.» Sie hält den Blick weiter gesenkt.

Der Wanderer hört ihr ungläubig zu, nach allem, was sie mit ihm angestellt hat.

«Wieso eigentlich gerade du? Oder bist du die falscheste von ihnen allen?»

Lange hält sie ihre Antwort zurück. «Sie haben mich mehrmals bei meinen heimlichen Liebesspielen mit dir beobachtet und hatten nur noch Hohn und Spott für mich übrig.

«Eben…» grinste Rao-tej sie an, «hast nicht auch du mich ihrem Spott ausgeliefert?»

Ittil sieht ihn kurzerhand an, fast ein wenig gekränkt. «Meine Artgenossen saugen dir deine Lebenssäfte ab, und zwar in dem Moment, da sie ergriffen ihrer Leidenschaft nach Liebe endgültig erliegen… Nach Verstreichen der bekannten Frist bringen sie Töchter, und zwar deine Töchter, Wandrer, zur Welt!»

Das sitzt und verschlägt ihm für eine ganze Weile die Sprache.

«Wieso bist du nicht mit ihnen mitgegangen?»

Darauf lacht sie nur: «Ich hab' soviel für meine Sippe getan… Denen bin ich nichts mehr schuldig, außerdem gehört ihnen mein Leben nicht. Ich kann allein darüber verfügen.»

«Aber du kannst doch angeblich ohne sie nicht existieren.»

Diesmal sieht ihn Ittil traurig-vorfwurfsvoll an. «Ich brauch' sie nicht. Ich hab' ihnen vertraut, daß sie dir nichts tun. Mir einzugestehen, daß ich ihnen nicht übern Weg trau', hatte ich allerdings Angst, da ich wußte, sie würden dich umbringen… Du hast recht, Wandrer, ich bin auch ein Vampir. Die ganze Zeit über mit dir zusammen hab' ich vom Saft deines Lebens getrunken, um dir letzteres jetzt zurückzugeben.»

«Hier! Damit kannst du es ausposaunen!» Er zeigt auf die Stelle, wo er quer über die Brust ein Horn hängen hat. Sie nickt, und ohne Gegenfrage greift sie danach, um es von dort herunterzunehmen. Sie richtet sich stramm auf und bläst aus vollem Hals hinein. Der Ton daraus — tief und lang — schwebt über den ganzen Wald davon. Aus der Ferne stößt ein ebensolch tiefes Rohr herüber.

«Gon-a-Tschéjro», schließt der Wandrer die Augen, «na, jetzt wird alles gut.»

Stille ruht in dem sich spiegelnden Mittagslicht dieses sonnigen Tages, bis sie ein Knacken und Rascheln vom Walde her verscheucht. Das Geräusch kommt näher und geradewegs durch das Dickicht auf sie zu. Am Ufer des Sees steht ein Kentaur.

«Rao-tej!» ruft der. Als er den unter einem Baum ausgestreckt liegenden Wanderer erblickt, stürzt er zu ihm und lehnt sich mit dem Rücken an ihn: «Was ist los, Bruder?»

«Ich brauch' deine Hilfe!»

«Das sehe ich. Aber was will diese Blutsaugerin hier?!», dröhnt sein Organ vor Empörung, als er die Mittagsfee an des Wandrers Brust geschmiegt erkennt. «Och, du Drecksstück!» reißt er sie von ihm los. Er bäumt sich auf und will mit seinen Hufen über sie hinwegsteigen.

«Das läßt du schön bleiben, Gon! Ich verdanke ihr mein Leben.»

«Wenn du dich da mal nicht irrst!» Haßerfüllt schlägt er beim Anblick Ittils die Vorderläufe vors Gesicht. «Ich verlange, daß du von der die Finger läßt!»

Er stampft unmittelbar neben Ittils Kopf mit den Hufen dumpf auf, daß sie am ganzen Körper zittert. Der Kentaur wendet sich von ihr ab, so als hätte er die Gegenwart eines so nichtswürdigen Geschöpfs, einer Kreatur, die es nicht wert ist, daß man sie überhaupt beachtet, sofort wieder vergessen.

«Welches Unglück ist dir zugestoßen, Bruder? Warte kurz… Haben sich hier vor kurzem nicht Vampire ein Stelldichein gegeben?»

«Ja.»

«Na, du hättest sie mit einem Blick allesamt versengen können!»

«Hätt' ich nicht.»

«Du Satan, du!» flucht und schimpft Gon-a-Tschejro, dieweil es ihn nicht wenig gelüstet, aus lauter Wut die Mittagsfee augenblicks in eine Lichtspiegelungswolke zu verwandeln, ihn aber etwas sichtlich davon abhält.

«Tu ihr kein Leids, Gon. Und laß sie hier nicht zurück. Wenn du uns beiden nicht helfen willst, dann droll dich.»

«Bist du des Teufels?! Soll die ganze Welt deinetwegen kopfstehen, Wandrer?!»

«Von mir aus ja, wenn es die Gerechtigkeit verlangt.»

Der Kentaur tritt schweigend auf Ittil zu, hebt sie ohne besondere Umstände vom Gras auf und nimmt sie huckepack.

«Bist du’s zufrieden?», fragt er trocken.

Rao-tej lächelt beinah schuldbewußt, daß Gon-a-Tschejros harter Ausdruck im Nu aus den Augen verschwindet: «Wirst du dich auf meinem Rücken aufrecht halten können?»

«Ja, ja, das geht schon ganz von selbst, wenn du mich nur stützst.»

«Hier in der Nähe hat mein jüngerer Bruder seine Höhle.»

Der Kentaur hält den Wanderer fest um die Taille und hilft ihm auf. Beim Umdrehen sieht Rao-tej Ittil der Länge nach auf Gon-a-Tschejros breitem Rücken liegen, mit dem Gesicht nach unten, wie eine Eidechse, die sich auf einem warmen Stein sonnt. Gon-a-Tschejro — außerstande, seinen übersteigerten Unwillen zu verwinden — hört, während er Rao-tej stützt, nicht auf, ihm laufend Vorwürfe zu machen.

«Wie konntest du das alles vergessen, was sie dir gesagt haben? Hm? Das hast du doch! Andernfalls hätt'st du die da… nicht auf hundert Schritt an dich rangelassen.»

Diese da… drückt seine Abscheu nur höchst unzureichend aus.

«Sag die Wahrheit… Aber nein, schweig. Ich bin auch so im Bilde, daß an allem dieses abstoßende Luder schuld ist, eine Ausgeburt an Falsch— und Gemeinheit, Niedertracht! Womit hat sie dir überhaupt den Kopf verdreht? Dies kümmerliche Häufchen Elend! Meinen Ruf ins Tal der menschlichen Gattung hast du überhört, nehm' ich an. Eine jede der Menschen Töchter wähnte sich glücklich, mit dir das Bett zu teilen, denn ein jedes von dir, Wandrer, gezeugte Kindlein hat den Segen deines Geschlechts für viele Generationen im voraus sicher.»

«Schweig, Gon!»

Rao-tej spürt die Regung in seinem Rücken, daß Ittil abzuheben gewillt ist, sie ihre winzigen Flügel nur nicht tragen und sie immer wieder zurücksinkt auf des Kentaurs breiten Rücken. Der Wanderer fängt ihren klagenden Blick auf.

«Hab keine Angst, Ittil. Gon-a-Tschejro ist gütiger, als er vorgibt oder zeigen mag.»

Der Kentaur schnaubt vor Wut, sagt aber nichts. Bis zur Höhle seines Bruders haben sie noch die Hälfte des Wegs zurückzulegen. Ittil unterdessen hebt wieder ab, und diesmal fliegt sie ungestüm davon.

«Brauchst du noch mehr Beweise ihrer Falschheit?», knurrt der Kentaur ihn an. «Sie hat sich nicht mehr verstellt, nachdem ihr klar war, daß sie niemanden mehr zum Narren werde halten können. Da genau macht sie sich aus dem Staub.»

Dem Wanderer widerstrebt jedwede Antwort darauf und desgleichen, Ittil nachzuschauen. Nur irgendwie dämmert es und wird dunkler, vermutlich sind die beiden Weggefährten immer tiefer in den sie umgebenden dichten Wald gedrungen. Schon schiebt sich ein hoher bis über die Gipfel ragender rauer Felsen, dessen Fuß eine Höhle birgt, ins Blickfeld. Den Wanderer leitet einzig ncoh das Bestreben, nicht unter des Kentaurs Hufen zu geraten. Für jegliche andere Gedanken und Wünsche hat er keine Kraft. Auch Gon-a-Tschejros Stimme vernimmt er nur mit Mühe.

«Sieh mal da!»

Schwerlastend auf den Freund gestützt gewahrt er vor ihnen Ittil erstarren, nur ein silbrig Blinken ist noch in ihrer beider Rücken zu sehen, von dem sie darauf schließen, daß sie sich weiter in der Luft hält.

«Hier, nimm, schnell!», reicht sie Gon-a-Tschejro ein Fläschchen, das an einer Schnur hängt, die sie um den Hals hatte.

«Oh, das ist ja heiß! Was ist da drin?»

«Wasser aus den Heißen Quellen.»

«Das ist doch gelogen! Wärst du dort nur verbrannt!»

«Besser du gibst dem Wandrer schleunigst davon zu trinken, Dummkopf!», läßt sie Rao-tej nicht aus den Augen, nähert sich ihm, faßt ihn mit rotglühenden Händen an beiden Schultern und zieht ihn an sich — ein Windhauch von den Flügeln kühlt ihm das schweißnasse Gesicht.

«Entweder bin ich tatsächlich ein ausgemachter Dummkopf, oder mir ist entgangen, wann sich die Welt umgestülpt hat. Dann bin ich allemal ein Dummkopf», brabbelt der Kentaur und nimmt seine Feldflasche vom Gurt, füllt sie mit ein paar Tropfen der dampfenden Flüssigkeit und führt sie Rao-tej an den Mund.

Dem Wandrer will es scheinen, als trinke er glühendheiße Lava, die ihn dennoch nicht verbrennt, sondern seinen ganzen Körper durchströmt und jede Ader mit brodelnder heilender Kraft anfüllt. Seine Brust hebt und senkt sich weit und tief, voller Dankbarkeit und Zärtlichkeit kreuzt er die Arme über ihrem schmalen Rücken, den er behutsam an sich drückt. Sie schlägt noch ein-, zweimal mit den Flügeln und läßt sie schließlich herabsinken. Der Wandrer bemerkt deren versengte Ränder. Er legt seine Hände auf die schmiegsamen Locken und preßt ihren Kopf sacht an seine Schulter.