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Der mitternächtliche Gast

Übersetzung: Thomas Klein, Werner Widrat

Eine ungute Nacht brach herein. Der Ort duckte sich lauernd unter eine schwere verdunkelte Wolkendecke. Von dumpfem Gewittergrollen vorwärtsgedrängt wälzte sie sich behäbig weiter und schleuderte grellaufblitzende Pfeile herab. Die Bewohner des Ortes schlugen hastig das Kreuz: «Gott bewahre! Bloß kein Feuer jetzt! Lieber Regen!» Statt Regen aber trieb ein für diese heiße Jahreszeit kalter Wind Staubsäulen durch die dunklen Straßen.

Schlaf wollte und wollte sich nicht einstellen. Wehmutsvolle Gedanken hinderten ihn wohl daran. Und Nastjóna plagte der Hunger. Sie zog die Knie an und seufzte schwer. Schon ergoß sich aus des Teufels Hand ein reißender Strom von Tränen über sie.

Diesem Bösewicht entkam sie einfach nicht!

'Soll er doch platzen vor lauter Bosheit! Der braucht sich gar nicht einbilden, daß ich mich ihm tränenüberströmt vor die Füße werfe!'

Und wieder entrang sich ihr ein schwerer Seufzer — doch einen Prozeß anstrengen überstieg ihre Kräfte… Allerdings wurde dieser sonderbare Kauz von einem kratzbürstigen Dorfschulzen geradezu fuchsteufelswild, als er die Bratpfanne, die er sich von ihr erbat, übern Dez bekam. Drei Tage schlich er umher, die Fellmütze bis tief ins Gesicht gezogen. Bei jedem Gelächter in seinem Rücken verfinsterte sich sein Blick zorneswütig. Herrgott, wie haben die Leute ihn unterschätzt! Und die Bewohner des Dorfs — nun ja, einige bedauern sie, grüßen. Ohne die wäre sie noch denselben Winter Hungers gestorben. Auf welchen Beistand von ihnen hätte sie bei deren Unfreiheit denn hoffen können! Und konkret von wem? Will man sich dem Herrn verneigen, muß man ihn in seinem Paris oder London suchen gehen.

'Oje, liebe gute Mama, du meine Beschützerin — wie bin ich doch von allen verlassen?!'

Drei Tage verzehrte die schlimme Krankheit sie beide, dem Wunschtöchterchen hinterließen sie das Erbteil einer Waisen…

Während draußen der Wind dann und wann lautstark anschwoll, vernahm sie ein leises Klopfen an der Tür und sprang aufgeschreckt aus dem Bett: «Schon wieder?! Herrje, dieser verdammte Sünder! Na — dann ist’s wohl vorbestimmt…»

Die rechte im Rücken — schob sie den Riegel zurück. Der Wind zerrte heulend an der Tür, riß ihr die Klinke aus der Hand, und irgendeine andere Hand bändigte das wildgewordeneTürkreuz. Nástja erwartete ein abgebrochenes Dickerchen im Türrahmen stehen zu sehen und war verblüfft von der schemenhaft-hochaufgeschossenen Gestalt dort, an der sie mehrfach hinaufschauen mußte.

«Gute Frau, findet sich in Ihrem Haus ein Plätzchen für einen Wanderer?»

«Ein Plätzchen? — aber ja, sicher» entfuhr es ihr wie von selbst. «Sucht er weiter nichts. Sie haben doch bestimmt Hunger.»

«Ich bin nicht wählerisch, ein Krug Wasser und ein Lagen Stroh für den Kopf zum Unterlegen würd'n mir schon reichen.»

«Kommen Sie rein, wenn es so ist» ging sie ihm voraus, «stoßen Sie sich nicht den Kopf, die Tür ist extrem niedrig.» Da hörte sie auch schon ein dumpfes Krachen. «Hab' ich’s nicht gesagt. Nun haben Sie sich doch gestoßen! Sie sind aber auch ungeschickt! Bleiben sie da stehen, ich zünd' erst ein Licht an, damit Sie sich nicht noch eine Beule holen.»

Allein mit sich band sie im stillen zuallererst ihr Messer los. Als nächstes öffnete sie die Feuerungsklappe und angelte mit dem Schürhaken ein glühendes Kohlestückchen aus dem Ofen hervor, blies und hielt zugleich den Kerzendocht in die Glut. Als dann der schmale Docht gleichmäßig hochzüngelnd aufflammte, wandte sie sich zu ihm um. Beinah wär' ihr bei seinem Anblick doch glatt die irdene Schale mit der Kerze aus der Hand geglitten. Die Hand ließ sie sinken, das Herz, ja, das — wollte ihr schier zerspringen vor erregtem Pochen… Nie zuvor in ihrem Leben — nicht einmal in ihren unschuldigsten, kühnsten Mädchenträumen hatte sie einen derart schönen Mann von so stattlicher vollendeter Gestalt zu Gesicht bekommen. Seine überraschende — ihr unerklärliche, unfaßbare — Schönheit entwaffnete sie geradezu!

, Du liebe Güte, was ist denn das?..‘

Damit verlor der Hokuspokus ob eines solch unbeirrbaren, der Versuchung abholden Weibes auch schon seine Zauberkraft…

«Sie müssen doch ganz durchgefroren sein» beeilte sie sich zu versichern und verbarg ihr Gesicht vor ihm, damit er nicht allzu deutlich ihren salzsäulestarreähnlichen Zustand bemerke. «Heuer kommt der Herbst aber auch bitterkalt daher. Geben Sie mir Ihren Mantel, wärmen Sie sich einstweilen, da — der Ofen ist noch warm von gestern abend. Herrje, unterm Mantel nur im dünnen Hemdchen, ohne Jackett oder warme Jacke, wer macht sich denn so auf den Weg?!»

Er schmiegte sich an den Ofen und nahm mit den Handflächen über die Breitseite dessen behagliche Wärme in sich auf.

«Na, Sie gehören eher in ein hochherrschaftliches Haus… Wenn Sie mögen, bring' ich Sie hin. Da kriegen Sie ordentlich zu essen und ein Ihnen würdiges Nachtlager.»

«Was ist hier unwürdig?» lächelte er sie an. Im Halbdunkel blitzten seine strahlendweißen Zähne. «Gegen was zu beißen hätt' ich nichts einzuwenden. Wir sehn mal nach, was uns der liebe Gott hier beschert?!»

Mit diesen Worten brachte er seine Reisetasche, die immer noch an der Türschwelle stand, an den Tisch.

«Aber Ihr Pferd holt sich bei dem kalten Wind den Tod» warf sie ein.

«Iwo, das steht unterm Vordach, da ist es windstill. Eine Garbe Heu konnt' ich auch auftreiben. Oder bekomm' ich jetzt Schelte von dir?»

«Nee, nee», winkte sie ab, «ist doch eh keiner da zum Verfüttern. Die einzige Kuh mit ihrem Kälbchen hat mir der Dorfälteste schon vor langem wegen der Melkrückstände vom Hof genommen.»

«Du scheinst überhaupt ein tristes Dasein zu führen» sprach der Unbekannte und packte seinen Reiseproviant aus. «Ach so! Und ich wunder' mich, warum die Tasche so schwer ist! Kannst du mir mal eben helfen, gute Frau, ich blick' hier nicht mehr durch.»

«Ich bin satt. Ich mach' Ihnen lieber das Bett» trat sie aus dem Lichtkegel, da sie sich ihrer Magerkeit, der deutlich hervorstehenden Schlüsselbeinknochen und des riesigen Froschmauls schämte.

«Allein mag ich nichts essen. Schlag meine Einladung nicht aus. Du gestattest doch, daß ich mich für dein gastfreies Haus revanchiere.»

Etwas zögerlich und gesenkten Blicks setzte Nastja sich zu Tisch. Mit Fug und Recht gingen ihr die Augen über, wieviel an Speis und Trank in so eine Tasche paßte, noch dazu solch erlesene und das alles in ihrem Haus, wo gerade sattsam der Notstand ausgebrochen war. Sie wär' sich selbst auch eine Erklärung schuldig geblieben, warum sie so schnell alles von sich preisgab. Leicht ging es ihr über die Lippen, von der Mutter und dem Vater zu erzählen und auch von dem Messer in ihrem Rücken. Na, und die Geschichte mit der Bratpfanne nahm sich jetzt um so spaßiger aus. Sie lachte und hatte die kürzliche Scham ob ihres unvorteilhaften Äußeren abgelegt, so wie sie seinem verzaubernden Blick nun auch nicht mehr vor lauter Scheu auszuweichen brauchte. Auf einmal meinte sie, daß die Helligkeit in ihrer Stube nicht von dem Licht der Kerze herrühre, sondern seinen Augen, die soviel Edelmut bezeugten, der sich eben auch aufs Gesicht übertrug. Von grauer Färbung strahlten sie bald vor Lachen, bald sprühten sie vor tiefer Anteilnahme oder verhehlten nicht darin aufbrausenden Zorn. Dann wieder entdeckte sie in ihnen einigen Verdruß, daß sie sich plötzlich besann und doch besser nicht gleich all ihren Kummer vor ihm hätte ausbreiten sollen. Er aber sah aus dem inzwischen von der Morgendämmerung ein wenig erhellten Fenster und sagte ganz unvermittelt: «Ich muß los, gute Frau.»

«Ach was! Schon?» verhaspelte sie sich fast und redete auf ihn ein, er sei ja überhaupt nicht zum Ausruhn gekommen…

«Nástenka, mein Seelchen, in deiner Gegenwart hab' ich mich erholt» lächelte er ihr still, aber unverwandt betörenden Blicks zu. Wiederum überschlug sich ihr Herz einem Vogel im Käfig vergleichbar.

«Schauen Sie mich nicht so an!»

«Was hast du? Angst?»

«Nein, das nicht…»

«Ich komm' in drei Tagen wieder. Läßt du mich dann wieder rein?»

«Ich werde warten…»

Im Nu hatte das stattliche hohe Roß im fliegenden Galopp die Dorfstraße hinter sich gelassen, ohne daß ein einziger Wachhund anschlug. Selbst die Bäuerin am Brunnen — schon früh auf den Beinen — drehte sich auf den feinen leisen Hufschlag nicht nach ihm um. Als schließlich die Dächer der Bauernhütten außer Sichtweite waren und sich weit und breit rechts wie links ungehindert bis zum Horizont Auenwiesen zogen, hielt der Reiter an. Sein Pferd riß das Maul auf, fletschte die Zähne und wirbelte unruhig tribbelnden Schritts den Staub vom Straßengrund auf. Der Hand, die es lenkte, gehorchend, richtete es sich nervös kerzengerade auf. Der Reiter beugte sich herunter zu der atlasweichen Mähne und verschmolz mit ihr und dem Pferd. Da plötzlich stob von unter den Hufen Staub oder gleich der ganze Weg in einer schwarzen Säule hoch auf in die Lüfte — zugleich Roß samt Reiter herumwirbelnd… — und weg warn sie. Der Weg lag augenblicklich wieder leer auf weiter Flur.

Nastjona, an den Enden das große Tuch — ein Erbstück ihrer Mutter — knüllend und ganz Ohr lauschte dem verhallenden Hufschlag nach… Da — weg war er… Sie hob den Blick gen Himmel, der bereits aufklarte. «Meine Güte, wie ist mir froh zumute!» Spontan entrang sich ihr ein Stoßseufzer aus der Tiefe, als müßte sie an ihrem Freudenausbruch gleich ersticken. Befreit und vor Glück lachte sie aus voller Kehle.

Die angekündigten drei Tage waren im Nu verflogen, ganz so, als wäre ein festlich aufgeputztes und von silberhellem Glöckchenklang erfülltes Dreigespann vorübergesaust! Nastja riß eine Jubelwelle grenzenloser Freude mit sich fort und hoch hinweg, wo ihr weder eines Dorfältesten Bosheit noch einer Waisen Einsamkeit etwas anhaben konnten. Ja aber, — keine Spur von Einsamkeit! -, entschwunden ins vordämmrige Halbdunkel der unverhoffte Gast!, allerdings so, als stünd' er immer noch neben ihr. Oder im Gegenteil — entrissen hatte er sie den beschwerlichen, freudlosen Tagen. Wie anders wäre es zu erklären, daß sie das fürchterliche neue Chaos um sich herum nicht im mindesten wahrnahm. Wie unsichtbar blieben die Leute auf Distanz und verharrten in angespannter Habachtstellung. Registrierte sie, mit welch gierigen Blicken die Kerle und die jungen Burschen ihr nachschauen und wie zerstreut sich die Frauen nach ihr umdrehen. Gleichwohl sah sie es nicht, nichts wollte sie sehen. Sie merkte nicht, wenn der Dorfälteste stockte und gewohnheitsmäßig allmorgendlich zu einer Schimpfkanonade ausholte, ihr die Leviten zu lesen, nach Luft schnappte…, sich schließlich daran verschluckte und Nastja entgeistert anstierte.

An einem dieser Abende wandte sich ihre Nachbarin, die mit einem Krug Milch und Kanten Brot vorbeikam, aus Argwohn schon an der Türschwelle zum Gehen, konnte sich aber nicht verkneifen zu sagen: «Na, ich weiß nicht, Nastúßja, was mit dir los ist. Als ob du nicht mehr ganz richtig wärst im Oberstübchen». Nastja lächelte darauf nur. «Woher denn dieses Leuchten? Freust du dich über irgendwas?» klang ihr Unverständnis wie ein Vorwurf. «Ein erbärmliches Wrack der Dorfälteste, die Sprache hat’s ihm verschlagen, dich aus der Welt gestoßen, und dir scheint’s nichts auszumachen?»

«Zu mickrig sind seine Patschhändchen, Tantchen.»

«Du hast doch wohl nicht mehr alle!.. Sieh dich bloß vor, du Dirne, daß du nicht noch ärgere Übel heraufbeschwörst. Eins will mir nur nicht in den Kopf. Du bist heut' so merkwürdig anders als gestern…»

Am nächsten Tag dehnten sich die Minuten endlos. Die liebe Sonne indes zog langsam, aber unbeirrt ihre Bahn und ging allmählich hinter den entlegensten Wiesen unter. Und das Nordlicht verzehrte sich im Abendrot…

Das Dorf sank verschlafen in die Stille einer lauen Sommernacht. Ein voller Mond betrat seine Bahn und beschien mit seinem silbernen Licht die verzauberten irdischen Gefilde. Alles ringsumher lag still… zu still, daß dem jungen Frauenherz davon zusammenzuckend fröstelte. Nastja verging vor Ungeduld, immer kurz nach Mitternacht mit einem feinen Gehör auf den vom staubigen Straßenpflaster gedämpften Hufschlag, seines!‘ Rosses zu lauern.

Ihre Erregung schlug an und verhallte wie eine Saite —, wie? — wohl vorbeigeritten?!‘. Aber nein, Reiter und Roß hielten just vor ihrem Hof, schon knarrte die Pforte, auf der Außentreppe flinke Schritte… Sie kam seinem Klopfen zuvor und riß die Tür weit auf.

«Sie war nicht verriegelt, weil ich auf Sie gewartet hab'.»

«Sei mir gegrüßt, Nastjenka!»

Wieder erstrahlten ihre Augen, aus jedem dunklen Winkel ihrer Seele, die sich verzehrt hatte nach ihm, war alle Trübsal verschwunden… Bei einem wohl weltweit so unvergleichlichen Gesicht wie dem seinen, dazu einem zärtlichen Lächeln wie dem seinen! Er schwebte über den Fußboden und schien ihn kaum zu berühren. Ja, es wollte ihr gar scheinen, als stiege er jeden Moment durch die Zimmerdecke in den samtweich anmutenden Sternenhimmel auf.

«So eine bist du also…» steht er erstaunt vor ihr. Was hat sie? Ihr Gesicht ist jetzt ganz dümmlich entstellt von dem bis über die Ohren reichenden Froschmaul.

«Hast du dich gesehn?»

«Was denn, machen Sie sich lustig über mich?»

«Komm' hierher.»

Wie konnte sie im Spiegel ihr rußverschmiertes Gesicht übersehen haben? Sie betrachtet sich nicht gern im Spiegel. Nastja gibt rein gar nichts auf das ungewöhnlich scharfe Spiegelbild und selbst auf den Umstand nicht, daß sie das ist, die sie da vom Scheitel bis zur Sohle auf ihr unergründliche Weise in dem Spiegelglasausschnitt maßnimmt. Etwas anderes wunderte sie allerdings:, Wo war das halbwüchsige rothaarige Mädchen mit der Trauermiene hin? Woher kam so plötzlich dies sagenhaft junge Ding?‘

Das zerschlissene, fadenscheinig gewordene Kleidchen war kaum imstande, seine gertenschlanke Gestalt zu verhüllen…, erst recht nicht die vollen runden Brüste, auf daß seine schmalen Schultern nun so richtig zur Geltung kamen. Das rauhe widerspenstige Haupthaar — vordem auch so ein ständiges Ärgernis — entfaltete nunmehr seine wahre goldrotglänzend weiche Lockenpracht. Aus dem feinen Gesicht mit den etwas hervorstehenden Wangenknochen schauten große verzückte himmelblau strahlende Augen. Ein verirrtes Lächeln verlor sich in hinreißend zarten Lippen: «Was hast du bloß mit mir gemacht?!»

«Ich gestehe, ich kann mich nicht sattsehen an deiner Schönheit, Herzallerliebste…» kniete er vor Nastja nieder, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

Nastja möchte weder seinen Worten noch ihren eigenen Augen trauen: «Was ist das? Wie ist es nur möglich?!»

«Ich würd' dich jetzt gern zu mir einladen» erwiderte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. «Wirst du’s denn zulassen?»

Er geleitete sie bis hinauf in die Höhen der Spitzbogengewölbe eines grünen Tempels. Es war Nacht, doch die Dunkelheit ward von unzähligen flackernden Lichtlein durchstrahlt. Sanft schwebten sie durch die Lüfte, nebenher zeichneten sich die herrlichen Weiten und Umrisse von erlesenen, gleichwohl reflektierenden Lichtspektren erleuchteter prächtiger Gemächer vor ihren Augen ab. Es wimmelte von in vollem Gepränge aufziehenden Sternbildern, glitzernder sphärischer Staub von den Sternen rieselte durch die Nacht… Und noch eine andere — silberliebliche — Welt tat sich von unter den Gewölben her vor ihnen auf. Vielleicht schlug jene auf silberhellen Saiten eine verhalten-berauschende Melodie an. Eine ebenso liebliche, die ganze Umgebung in Schwingung versetzende, daß es scheinen mochte, als hüben die hauchdünn mit allerlei smaragdenen Ornamenten verzierten Wände und Mauern zu singen an, wie auch die von ihnen eingeschlossenen Räume. Nastja dünkte erst, überall wären feingewobene Spinnetze gespannt, die sich unmerklich in dem Lufthauch wiegten. Just in diesem Augenblick schien ihr Gesicht ein kleines Wesen mit federleichter Hand sacht zu berühren und mit ihren Locken zu spielen…

«Ist hier jemand?»

«Zu sehen gibt es hier eine Menge…»

«Ich sehe nichts…»

Darauf verstummte sie, nachdem sie auch schon zuvor übersehen hatte, daß von den Laternenlichtlein klitzekleine, fast durchsichtige Wesen getragen wurden. Das Dunkel ihrer flirrenden kleinen Flügel streute Sternlein wie Krumen aus. Der Gastgeber schnipste mit den Fingern, und sie stoben wie ein aufgescheuchter Schwarm von Silberfischchen davon und zogen nach und nach verlöschenden feinen Sternblütenstaub hinter sich her.

«Nachtelfen sind allerliebste zarte, jedoch ungemein neugierige Geschöpfe.»

Die beiden fanden sich wie in einem wunderbaren Garten wieder. Nastja indes registrierte weder, wie die Wände des Palastes mit einemmal weit aufsprangen, noch daß sie ganz und gar wegschmolzen… Ein glitzernder Pfad führte sie bis hinauf in die sanftruhenden Kronen in tiefen Traum versunkener Bäume, vorbei an schlafenden Blumen, schnitt durch seidenweiches Gras unter einer hellfarbenen Perlendecke und endete schließlich an einem Bach. Am Tage rauschte und funkelte der gewiß, jetzt aber murmelte er leise, wahrlich ein einzig Geflüster schien’s, derweil das Mondlicht in dessen Naß badete, jedenfalls erweckte es den Eindruck, als flösse darin nicht gewöhnliches Wasser, sondern ergösse der Mond sein Licht geradewegs über des Bachs smaragdgrüne Ufer hin. Nastjenka fing darin ihr Spiegelbild auf und lauschte dem lieblichen Rauschen des Bachs. Plötzlich mischten sich unter das leise Rieseln stete Klänge einer anderen Musik, kaum vernehmbar der Widerhall kristallen tönender Glöckchen und verstärkt durch einen einzigen Tropfen der Freude über den nahenden Frühling. Hierauf wob sich nun lautlos mitten dahinein der Gesang einer verzauberten Hirtenflöte. Nastjas in helle Verzückung geratenes Bewußtsein mühte sich vergebens herauszuhören, ob die Musik tatsächlich von einer Schalmei stammte oder ob eine im Schatten der Zweige verborgene Nachtigall erwacht ist… Immer zuversichtlicher folgten die Töne einer beständigen Melodie. Nastja ihrerseits erkannte die ihr immanent zugrundeliegende Harmonie mit wachsender Bestimmtheit, während dazu im Einklang silberne Lichtpunkte tänzelnd herumwirbelten. Nun zogen sie allerorts gleitend ihre Bahn — über das Blattwerk der schlafenden Bäume, das Gras, Nastjas Hände und Kleid… Tausendfach blitzten hie und da hübsche kleine Regenbogen auf und schwirrten hin und her.

, Regenbogen?! Mitten in der Nacht?!‘ stutzte sie einen Augenblick lang. Dann mußte sie herzlich lachen über ihren Zweifel:, Na klar, die schickt der Mond!‘

Unbeirrt gab sie sich weiter den sie verzaubernden Melodien und dem sie mitreißenden Tanz des Mondes hin. In ihrem Sinnestaumel schaukelte und glitt sie dahin auf wundersamen Klangwellen, die zu guter Letzt samt ihrer Wenigkeit gen Himmel stiegen. Augenblicklich begriff sie, daß sie längst nicht mehr allein war. Jungfrauen tanzten mit ihr auf und wandten ihr lächelnde Mienen zu. Die waren so anmutig, daß Nastja von deren bloßen Anblick ganz heiter wurde. Lachend drehte sie sich in dem freudigen Reigen wie eine Vogelfeder so leicht, bis sie über einen Gedanken aus ihrer Benommenheit auffuhr: «Was mach' ich hier? Ich bin hier doch nicht allein? Wo bist du?»

«Ich bin hier bei dir» hörte sie ihn mit ruhiger Stimme unmittelbar neben sich sagen.

Nastja, indem sie scheinbar die Augen öffnete, wähnte sich abermals am Ufer des Bachs, wovon ihr schwindelte, so überraschte sie das. Je nun umfing eine feste sichere Hand ihren Körper und hielt ihn behutsam aufrecht. Sie fuhr sich übers Gesicht das Trugbild verscheuchen.

«Was war das?»

«Undinen und Regenbogen haben dir ein Ständchen dargeboten.»

«Wer sind sie?»

«Fließenden Wassers ewige Begleiter.»

«Aber doch nicht alle…»

«Einige von ihnen vielleicht befreite Geister oder auch die Seelen von Bäumen, Gräsern, der Elemente… Oder noch was anderes. Menschliche Sprache und der Menschen Verstand versagen bei überirdischen Wesenheiten, wenn es darum geht, sie zu benennen oder gar zu erfassen» beugte er sich über sie und sah ihr direkt in die Augen: «Fühlst du dich hier wohl, Nastjenka?»

«Ach, mein Freund! Was weiß ich? Warum fragst du?» berührte sie ihn von Dankbarkeit erfüllt an den Händen.

«Mensch, Nastja, ist dir kalt, du mein unverhoffter Gast? Deine Finger sind ja eiskalt…»

«Ach was?! Ich spüre keine Kälte!»

Vor Schreck stieß sie einen Schrei aus, weil aus dem Dunkeln flink wie ein Kreisel irgendsowas Zottliges direkt auf sie zugekullert kam. Vor ihren Füßen verwandelte sich dieses Etwas in ein dürres Kerlchen, das schwarz und rußverschmiert wie ein kleiner Schornsteinfeger in ganz unansehnlichen Lumpen steckte.

«Dich hab' ich nicht gerufen!» rügte es der Hausherr.

«Warum gleich so ungehalten? Ich komme nicht ohne Grund.» Mit diesen Worten legte es Nastja einen schneeweißen Umhang aus Schwanenfedern um die Schultern, der mehr wärmte als mütterliche Umarmungen.

«Du Schlingel! Jetzt aber raus hier!»

«Jag mich nicht fort! Gönn mir das Vergnügen der Unvergleichlichen Schönen. Überall spricht man von ihr.»

«Ja ja, die Klatschbasen von Nachtelfen! Im übrigen, magst du nicht mit uns zu Abend essen?» wandte er sich zu Nastja um.

«Noch nicht gleich.»

«Ich regle das. Und du unterhalte solange unseren liebreizenden Gast. Und daß du mir ja Maß hältst! Hast du verstanden?»

Bei dem Anblick seines Gesichts von derart dunklem Teint mußte Nastja aus voller Kehle lachen, so verschmitzt war das.

«Wie heißt du?»

«Antschútka.»

«Ja aber, gibt’s denn überhaupt so ‘nen Namen! Antschutka — so heißt doch bestenfalls ein kleines Teufelchen.»

«Wieso soll’s so ‘nen Namen nicht auch geben?! Was ist mit mir?» schnappte das Kerlchen sichtlich gekränkt ein.

«Na, wer wird denn gleich schmollen!» fing Nastja wieder an zu lachen. «Wenn er dir gefällt, dann ist er gerade richtig!»

Da befiel sie plötzlich ein Gedanke, den sie nicht zurückhalten konnte: «Wieso weiß ich bis jetzt nicht mal den Namen deines Herrn?» gestand sie ihm einsichtig auf seinen fragenden Gesichtsausdruck hin. Antschutka sah sie unverwandt an.

«Hat er ihn dir denn noch nicht gesagt?»

«Nein. Ich hab' ihn auch nicht danach gefragt. Wie peinlich. Kannst du ihn mir nicht eben sagen?!»

Das Kerlchen zögerte.

«Ja oder nein? Nun sag schon!» stampfte sie böse mit dem Fuß auf.

In Antschutkas Augen regte sich aufs neu Interesse, auf einmal lugte daraus die Verstellung von vorhin hervor.

«Stehe zu Diensten, Unvergleichliche Schöne!»

«Wie du meinst!» befahl sie ihm rundweg böse und unverblümt.

«Warum nicht gleich so?! Deinem Befehl muß man einfach gehorchen. Der Name meines Herrn ist Drache.»

«Drache?» wiederholte Nastja offenen Mundes unsicher.

«Aber!!!»

«Kein Aber. Er heißt so.» Da er aber der jungen Frau Sprachlosigkeit sah, setzte er, erklärend‘ hinzu: «Eben Drache, der er halt auch ist!!!»

«Zauberdrache?..»

«Nein, nein… Weise… Ewig… Gefährlich… In einem Wort — Drache.»

«Ich hab' dich gewarnt!» dröhnte aus dem Hinterhalt eine Stimme, die Nastja bis ins Mark erschütterte und gleichsam ohne Drohung verhallte, daß sich das Kerlchen wegduckte.

«Raus hier!»

Antschutka drollte sich so schnell, daß Nastja entging, wohin.

Nun stand er vor ihr — hochgewachsen, wohlgestalt… Umwerfend… Gefährlich. Erwartungsvoll war sein Blick. Sie ihrerseits hielt diesem stand und sah ihm bis auf den Grund seiner leidenden Augen, wie ihr schien, die etwas Unheimliches und darüber hinaus Hoffnungsvolles, Zuverlässiges ausstrahlten.

«Was willst du hören?» fragte sie ihn.

«Ich weiß nicht.»

Er sagte noch immer nichts, sie: «Ich bin dir verfallen. Ich weiß nicht… Vielleicht. Oder doch nicht dir. Jetzt nicht. Eher vor drei Tagen?»

«Immerhin bin ich fortgegangen.» Nastja schwieg, er fragte: «Soll ich dich nach Hause bringen?»

«Nach Hause? Zurück ins Ungewisse, in die Fänge dieses Halunken?», jetzt, da ihr das Herz frohlockt ob des hochfliegenden Glücksgefühls… «Mein Schmerz, meine Freude — dir ein Zeitvertreib?» hauchte sie bitter.

«Aber, Nastjenka!.. Was sagst du da?!» unterbrach er sie unversehens, leise, voll Schuldgefühle. «Das nennst du Zeitvertreib, wenn ich dich befähigen will, deine eigene Kraft zu spüren wie dich selbst zu erkennen.» Er trat einen Schritt auf sie zu, preßte beide ihre Hände heftig an seine Brust. Nastja wich zurück und wollte sie ihm entreißen.

«Keine Angst. Ich schreck' dich nicht mit kalter schuppiger Drachenhaut…»

«Wieso?.. Du bist ganz du selbst!» warf sie den Kopf nach oben und forderte ihn zornesmutig heraus.

«Ich kann mich verwandeln, in wen oder was ich will, auch in einen Drachenkörper schlüpfen… Auf Zeit, vorübergehend.»

«In welcher von den Gestalten bist du wirklich echt? Im Moment weiß ich nicht, welcher ich trauen soll!!!»

«Was denn, Nastja, meinst du denn, ein einziges Wort habe soviel bewirkt?!»

«Nicht doch Wort!.. Hinterhältig bist du und verstellst dich… Wenn dir Worte sowenig bedeuten, warum nennst du mir nicht deinen Namen?»

«Ja, das ist meine Schuld…, aber doch nur, weil ich dich nicht verschrecken wollte, bevor du mich richtig kennst, und weil ich nicht wollte, daß du mich nach meinem Namen fragst. Ich hätte ihn dir nicht sagen wollen, um dich nicht zu belügen.»

«Wozu das alles? Was willst du? Was ist dein Begehr?»

«Eine enorme Kraft steckt in dir, Nastjenka. Nimm nur deinen Beinamen — Unvergleichliche Schöne. Es geht nicht an, daß man dir an den Kragen oder an die Kehle will! Jener Zwerg von Mensch begreift eben wegen seiner Erbärmlichkeit und im Grunde wegen seiner Niedertracht rein gar nichts. Nebenbei lohnt er der Mühe nicht… Sowieso könnten wir dafür sorgen, daß dir nichts passiert…»

«Ich versteh' nichts. Was soll dein ganzes Reden?» zog Nastja eine düstere Miene.

Plötzlich ward die ganze Gegend um sie herum in ein Rosalicht getaucht, durchzuckt von hellgrellen Blitzen oder eher deren Widerschein, für Nastja so unerwartet, daß sie vor lauter Blinzeln meinte zu halluzinieren. Der ganze rosaperlmuttfarbene Lichtkegelzauber versetzte sie in großes Staunen und ließ sie darüber alles andere vergessen…

«Die Botinnen der Morgenröte sind gekommen, das nahe Ende der Nacht zu verkünden.»

Hier horchte sie auf: «Fürchtest du dich etwa vor dem Tag und dem Licht der Sonne?»

Er lachte nur kurz auf, jedoch betrübt: «Fürchten nicht. Deinetwegen sind die Botinnen der Morgenröte beunruhigt. Vielleicht willst du ja noch vor Sonnenaufgang zurück nach Hause?» Nach einer Weile sagte er leise: «Bleib hier bei uns».

«Und dann?» kam es genauso leise über Nastjas Lippen.

«Was du begehrst. Was du befiehlst. Jetzt verschwende keinen Gedanken daran. Erlaube mir, daß ich dir meine Welt bei Tageslicht zeige.»

«Deine Welt…» ward ihre Stimme von Traurigkeit erfüllt., Nun weiß ich erst recht nicht, ob er real ist. Oder alles nur eine Sinnestäuschung. Na, sei’s drum. Währe sie lang — die Verlockung!‘

Da pfiff es schrill und laut — wie ein Lockruf -, daß sie sich die Ohren zuhielt. Und zwei Pferde erschienen auf ihres Herren Ruf. Eines kannte Nastja schon. Auf ihm ritt ihr Gast im Vormorgendämmer davon. Das zweite… — unerhört, wie es sie verzückte und begeisterte. Von welcher Farbe es war, konnte sie schwer ausmachen. Es schillerte bald silbern, bald perlmuttgrau. Die spindeldürren Beine setzte es tänzelnd eins vors andere, unter dem zartseidenen Fell spielten seine federnd-elastischen Muskeln. Die Mähne wallte ihm wie ein Feld samtweich im Wind wogender Ähren über den nach Art der Schwäne geschwungenen Hals. Das sah wirklich danach aus, als rieselten wie Kristalle so fein blauschimmernde, ineinanderverwobene und kurzaufblinkende Sterne herab. Am allermeisten erstaunte an seiner Erscheinung dessen langes Horn, das seinen edlen Kopf zierte. Das Licht brach sich in den Hornwindungen und flirrte wie auf den Flächen geschliffener Edelsteine. Auf der äußersten Spitze blendete ein nicht verlöschender Funke von ungeahnt reinem Weiß.

«Was ist das?» lispelte Nastja überwältigt.

«Ein Fabelwesen. Bei den Menschen heißt es Einhorn.

«Ja, aber das doch nicht! Das kommt geradewegs aus einem Märchen!..»

Von starken Armen emporgehoben fand sie sich auf dem Rücken des Zaubertiers wieder.

«Überzeug dich selbst, ob es echt ist» lachte Drache und sprang mit einem Satz in den Sattel, schwang sein Pferd herum, direkt auf Nastja zu, so nah, daß sich ihre Knie berührten.

«Deine Seele ist verwirrt. Jedes meiner Worte zerpflückst du vom Zweifel geplagt, was daran wahr ist, worin sich die böse Absicht verbirgt. Willst du wissen, wer dein Drache ist?»

«Ja» hob Nastja stumm den Blick auf. In dem Moment spürte sie förmlich, wie aus seinen Augen das Sanfte wich und sie sich bedrohlich in zwei scharfblitzende Klingen verwandelten. Nastja erbleichte und bekam unversehens seine immer stärkere grenzenlose Macht über sie zu spüren. Sage er —, Da ist das Feuer, geh‘, — der geht ins Feuer…

Doch hier streckte Drache flink seine warme Hand nach ihr aus und streichelte sie sanft an der Stirn. Nach einem tiefen Seufzer schien Nastja von einer schweren Last befreit, die ihr auf der Schulter lastete. Sie sah ihn an, weil sie nicht vestand, was genau das war.

«Na wie’n, Nastjenka? Weißt du’s jetzt?»

Sie wunderte sich noch über seine Frage, bevor sie endlich begriff. — Ja! Jetzt weiß sie’s!

Sie weiß nun, wie die großartigen urzeitlichen Drachen auf die Erde kamen. Überdies zogen sie so viel Kraft daraus, daß sie dank ihrem Einblick in das brodelnde Innere des Planeten, in irdischer Geschöpfe Gedanken vordringen, sie sich die Elemente unterwarfen und sie frei nach Belieben zwischen den Himmelskörpern hin— und herfliegen konnten. Die Erde fand Gefallen an ihnen, sie ihrerseits arrangierten sich gern mit ihr in guter Nachbarschaft. Seinerzeit ähnelten die Menschen noch wilden Tieren. Es vergingen Millionen und Abermillionen von Jahren. Die Drachen zogen sich in fernere Galaxien zurück und fanden nach ihrer Rückkehr einen vorzüglichen Lebensraum vor. Die dem jungen Planeten innewohnende ungestüme Kraft suchten sie zu dessen Vervollkommnung zu nutzen. Schon bald aber verdrossen sie die Hervorbringungen jenes irdischen Gezüchts, dem es vergönnt war, zunehmend andere Arten zu verdrängen. Sie entbehrten solcher Fähigkeiten, wie jene Ankömmlinge sie besaßen, und zum Ausgleich ihrer Schwäche beziehungsweise Unterlegenheit erfanden sie dank einem Übermaß an Schläue und Finesse allerlei Hilfsmittel und Werkzeuge, als sie nämlich anfingen, mit dem Faustkeil Steine der Länge nach zu spalten und zu bearbeiten. Sehr wohl hätten die Drachen an deren Begabungen ihre Freude gehabt, wenn nur deren Forschergeist auch der Erkenntnis dienlich gewesen wäre. Zudem dürfte jenen der eigene Hang zum Töten eben einen anderen Weg gewiesen haben. Es dauerte nicht lange, daß sie die Schönheit oder das Schöne für sich entdeckten, schätzen lernten und damit weitkommen sollten. Später dann entdeckten sie die hehre, befreiende heilsame Liebe, woraufhin sie noch wieder neue Arten, Methoden des Tötens und Mordens entwickelten. Mit ihren Versuchen, die menschliche Natur zu ändern, hielten sich die Drachen offenbar doch sehr zurück. Schließlich überließen sie die Gattung Mensch sich selbst und verschwanden aus des Menschen Welt.

Alles das findet seinen Widerhall im Gedächtnis tausender nachfolgender Generationen auf wundersame Weise und in vielgestaltig abgewandelter Form. Da ist jener Drache, der den Menschen die Erkenntnis brachte und dafür verflucht und gejagt wurde. Da gibt es Mythen über fliegende, sprich geflügelte Drachenschlangen von ungeheurer Gefährlichkeit und Grausamkeit. Da ist die atavistische Angst vor Reptilien und sonstigen die Erde bewohnenden Kriechtieren, die ihrem Wesen nach künstlich anmuten. Die außerirdischen Ankömmlinge wählten irdenes Material, darin sie menschenähnliche Gestalt annahmen. Sie suchten das Material nach seinen Qualitätsmerkmalen aus und nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild. Letzteres spielte keine Rolle. Ohnehin waren diese Kreaturen wie ihre Schöpfer in der Lage, in jedwede beliebige Gestalt zu schlüpfen. Ihr Werk führten die Drachen nicht zu Ende, nachdem sie enttäuscht ihr Interesse an den Menschen verloren hatten. Für ihren Fortbestand bedurften sie derer nicht, gewissermaßen blieben die für sie verstandesmäßig so etwas wie ein intellektuelles Rätsel. Etwas von dem, das sie der auserwählten Art mitgaben, hat sich erhalten: zum einen, daß sie sich absolut nicht zähmen und unter keinen Umständen vom Menschen beeinflussen lassen, zum andern ihr gewaltausübender bedrohlicher Blick wie auch ein Anflug von Mysteriösität und Abgeschiedenheit, der ihrem ganzen Stamm anhaftet. Und schließlich noch wichtig zu erwähnen, warum ihr ursprünglicher Gattungsname «Reptilien» irgendwie vergessen scheint und die Menschen sie seither «Drachen oder Schlangen» nennen…

«Von unseren Artgenossen existieren mittlerweile nur noch wenige. Mit den Menschen pflegen wir keinen Umgang mehr. Es sind lediglich noch die übrig, die — der Erde und ihrem Zauber dereinst erlegen — in dem weiten unendlichen Kosmos nichts Attraktiveres gefunden haben. Aber — wie du siehst — stehen wir nicht allein da, ist die Welt der Menschen nicht die einzig Existierende. Die Erde ist von unzähligen weiteren Lebewesen bewohnt. Von diesen anderen Welten ahnen oder wissen die Menschen nichts, wenngleich sie ziemlich offenliegen und ohne besonderen Eifer zu erkunden wären. Homo sapiens — seit Anfang an ihnen benachbart und an die verschiedenen Zeichen deren Existenz gewöhnt — schaut zwar, aber sieht nichts, horcht, aber hört nichts. Nastja, darf ich fragen, was es noch ist, das deine Ruhe stört.

«Nichts. Und ich darf mich vor dir verneigen.»

Mit den Knien hieß er sein Pferd weitertraben. Das Einhorn holte den Hengst behend ein, bis sie im Gleichschritt nebeneinander auf Augenhöhe ritten: «Halt an. Wieso hast du dich mir offenbart?»

«Ich lebe seit langem schon mitten unter Menschen und weiß - sie sind nicht alle gleich. Eure weissagungsvolle Bibel gemahnt: Der Mensch ist von Natur aus böse. Bevor ihm beigebracht wird zu sagen, Hier, nimm‘, sagt er, Gib!‘. Später müssen ausnahmslos alle wählen zwischen einem Raubtierdasein und einer Existenzweise der Vernunft, gleichwohl viele die richtige Wahl zu treffen vermöchten, auch wenn sie in der Minderheit sind, und so ein Gegengewicht zu den Übeln der ganzen restlichen Welt bilden. Dieses verdankt sich deren reinen und lichten Welt und nicht nur der menschlichen. Du bist eine unter den Lichtgestalten. In dir liegt eine ungeheure Kraft verborgen. Sie kann sich nur nicht behaupten, weil sie dem Gift menschlicher Niedertracht, des Hasses und der Gier unter ihresgleichen erliegt. Wir dürfen nicht zulassen, daß sie dich vernichten. Tritt ein in die Welt der Unsichtbaren, Nastjenka, und mach ihr deine kostbaren Schätze zum Geschenk — deine Schönheit, Reinheit und Liebe. Komm als die Unvergleichliche Schöne, erleuchte ihre Welt und richte sie ihnen nach den Gesetzen der Liebe ein…»

«Wie? Ich bin doch nur ein Mensch! Oder verwandelst du mich in eine Nachtelfe, eine Undine?»

«Nicht in eine Hexe? Als Hexe wären dir beide Welten gleichermaßen zugänglich.»

«Hexe?» bebte Nastja. «Was sagst du da?» fügte sie beinah flüsternd in klagendem Ton hinzu.

«Hab' ich dich erschreckt, Nastjenka? Du mußt dich nicht ängstigen» legte er ihre Hände in seine, die ganz warm waren. «Glaub mir, du meine Unvergleichliche Schöne.»

«Ja, ich glaubs dir» konnte er nur an ihren Lippen ablesen, was sie viel zu leise gesagt hatte. «Dann bist du eben mein Untergang, sei’s drum!.. Entfessele deine Zauberkräfte… Sollen sie auf mich wirken… und mich meinem Untergang nur um so süßer weihen.»

«Nicht doch Untergang. Nur Gutes will ich dir. Wieder ist es ein Wort, das dich in Angst und Schrecken versetzt. Kein Wort natürlich, vielmehr nur seine sinnentleerte Hülse, was der Menschen Werk ist…, weil für sie alles, was ihren Verstand übersteigt, ein Graus ist. Hexe oder Zauberin — also eine Wissende. Sie weiß um die uralten Geheimnisse der Erkenntnis. Das wiederum schreckt die anderen, finsteren, Gemüter. Wissende verbinden allgemein Welten miteinander, also nicht nur ihre beiden, wovon du jetzt Kenntnis hast. Sphärenübergreifendes Wissen zu besitzen ist oft unerklärlich. In den Besitz solchen Wissens zu kommen ist oft genug ein gefahrvolles Unterfangen, wozu nur wenige Würdige auserwählt sind. Sicherlich haben auch ich jetzt und meinesgleichen damit etwas zu tun. So höre also, was Menschen ausgeheckt haben:

— Mich führten sie im eisernen Käfig

Mitten durch die aufgebrachte Menge,

Bewarfen mit Steinen und verfluchten mich,

Durchbohrten meine Nacktheit mit Blicken.

Kinder kamen in schmutzigen Haufen

Mich zu schauen.

Geradezu bis zum Erbrechen keiften Frauen:

«Lyncht den Hexer!»…

Die Natur konnte mir nicht helfen,

Mich von meinen Fesseln zu befreien.

Und der menschenüberfüllte Platz

Atmete wie die Luft mein Leid.

Da schaute ich in die Menge —

Alle knieten angstschlotternd nieder,

Und dort, wo mein flammend Blick geruhte hinzufallen,

Stieg wie Pheonix eine Schlange aus der Asche! -

«Mir ist nicht klar, durch welche Art der Erleuchtung diese traurigen Zeilen die Frau erreichten. Sie drangen im Traum zu ihr, ohne daß sie deren Sinn voll erfaßte. Nun kein Wort mehr davon. Ich erwarte keine übereilte Antwort. Setz dich ihretwegen nicht unter Durck — sie bietet sich von selbst an. Sieh nur», gestikulierte und lachte er aus vollem Herzen.

«Was ist das?» verstand Nastja nicht, während sie einer kleinen dunklen Wolke hintersah, wie sie davonflog., Ist es nicht seltsam — der Wind bläst den Staub vor sich her!‘ Mit einemmal dämmerte ihr, daß sie diese winzige Staubsäule lang schon bemerkt hat, die aber nicht auseinanderstiebt, geführt vom Wind exakt den vorgegebenen Weg entlangzieht und nicht aufs freie Feld hinaus.

«Komm her!» ließ sich Drache leise hören. Ihm zum Steigbügel herzu kam Teufelchen Antschutka geeilt. «Was hast du wieder vor?»

«Die Nachricht über die Unvergleichliche Schöne verbreiten! Der Langersehnten den Weg bahnen!» Selber aber — mit verstohlenem Blick zu Drache — fragte er: «Worauf warten? Oder immer noch böse?»

«Na, ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann» klang Draches Stimme zwar nicht schmeichelnd, so doch bar jeden Zorns und friedlich.

«Was also? Gibt es wen aus dem Weg zu räumen?»

Für einen kurzen Moment meinte Nastja ein Zögern in den Augenwinkeln zu sehen. Der Grund dafür leuchtete ihr alsbald ein: zu sagen, da wäre niemand — wozu dann seine Vorsicht? Das kleine Teufelchen, das schon auf eine Antwort gefaßt war, starrte plötzlich sie an und kriegte den Mund nicht wieder zu.

«Was hast du?» brachte ihn Draches Stimme wieder zur Besinnung.

«Mein Herr…, in ihrer Gegenwart kann ich dich nicht hintergehn!»

«So ist das also mit dir» strahlte Drache im Siegesrausch. «Bei mir kannst du dir deine Winkelzüge sparen. Und mach endlich den Mund zu. Erzähl lieber, wie du die letzte Nacht verbracht hast!»

«Ganz ruhig, seltasamerweise. Freilich wollte sich Feldschrat Poljewík gegen Abend schon ins Weizenfeld machen. Aber in heller Aufregung war der mit den zwei Seelen in der Brust zufällig sofort zur Stelle. Und sie fingen schon zu zetern an. Da hab' ich mich schon mal köstlich amüsiert! Dann wollten so ‘ne Larven, Drekavaci — diese plärrigen Schreihälse von garstigen Kinderschrecks — das arme Kindchen nicht schlafen lassen, und dieses dämliche Weib hängt doch die nassen Windeln zum Trocknen auf und vergißt sie vor Einbruch der Dunkelheit von der Leine zu nehmen. Na, wenigstens konnten diese Nachtelfen schnell wieder beruhigt werden. Dann war da noch ein Bauer vom Gevatter hier, dem die Drekavaci gründlich Hirn und Kopf verwirrten und ihm von seinem Haus bis in den Wald folgten. Der Waldschrat ließ sie aber nicht gewähren. Warum sollte ein betrunkener Bauer auch die ganze Nacht im Wald zubringen? Das bedeutet nur Scherereien. Der Schrat lärmte, spukte, daß es dem andern mächtig im Oberstübchen rumorte. Und schon kurz nach Mitternacht trieb sich da keiner mehr rum.» Da blieb sein Blick wieder an Nastja hängen: «Dann ist sie das also gewesen — die Unvergleichliche Schöne -, die uns nach Mitternacht beehrte! Sie hat uns von allem Unreinen geheilt!»

«Genug jetzt. Geh, ruh dich aus. Du siehst doch selbst, daß die Unvergleichliche Schöne deines wachsamen Auges nicht bedarf.» Zu Nastja gewandt sagte er: «Er spricht die Wahrheit. Du hast so viel Kraft in dir, Nastja, daß einen schon dein Anblick vom Unreinen heilt. Und du brauchtest gar nichts dazu zu tun. Du wirst hier Freunde haben und treue Diener. Du wirst sie mit deiner Liebe und Reinheit aufrichten, bestärken. Sie ihrerseits tragen dein Licht in zahllose Welten. Wo es denn hell und klar ist, da nistet die Finsternis allenfalls in den Ritzen oder verzieht sich auf Nimmerwiedersehn. Du wirst hier gebraucht, Nastja.»

Sie hob den Kopf und sah ihm lange in die Augen. Sie fand darin nicht, was sie suchte. Dann, als sie wieder wegsah, fragte sie ihn: «Und du,…brauchst du???»

Sekunden zögernd reichte er ihr die Hand, berührte sie am Kinn, daß sie wiederholt den Kopf hob. Darüber wollte er noch nicht sprechen… Für ein Zurück war es bereits zu spät…

«Nastjenka, du kennst die Bürde der Einsamkeit. Ich war eine Ewigkeit einsam, allein… und bin dessen müde. Bei so vielen Leuten um mich herum… Aber sie sind mir eben nur Gefolgschaft und nicht ebenbürtig. Wenn wir müde werden, scheiden wir aus dem Leben, auf eigenen Wunsch.»

«Nein…» schrie sie zu Tode erschrocken auf.

«Warte noch. Eins sollst du noch wissen — unser Weggang schreckt niemand. Umsonst zittert ihr Menschen vor dem Tod, es gibt keinen Tod.»

«Soll das heißen, ich hab' dich nur um dessentwillen näher kennengelernt, auf daß wir für immer voneinander Abschied nehmen?!»

Er schüttelte den Kopf.

«Wenn du deine Welt nicht verlassen willst, so will ich dein ganzes Leben lang an deiner Seite bleiben. Unsichtbar werd' ich dich behüten. Ein Menschenleben währt nicht lang. Dein letzter Tag wird auch mein letzter sein. Wenn du aber mit in meine Welt kommst, wird alles anders. Aber meine Lebenszeit währt in der Tat nicht lang… Hier bist du mir gleichgestellt.»

«Und du sinnst auch nicht über den Tod nach?»

«Nastja… Liebe ist wie neugeboren werden…»

Sie versenkte sich bis in die Tiefen seiner vom Gram gezeichneten Augen. Seine Stimme klang panisch beunruhigt, als vermöchte sie noch an ihm zweifeln: «Mit keinem Wort hab' ich mich dir verstellt. Du wirst hier gebraucht… Aber vielleicht brauche vor allem ich dich.»

Nastjenka hielt sich mit einer Antwort noch zurück, weil sie ohnehin nicht wußte, was sie ihm entgegnen sollte. Aber Nastjas Seele erkannte bereits untrüglich ihre Verschmelzung mit der anderen, die ebenso inniglich liebte als auch litt. Und niemand und nichts konnten sie künftig mehr entzweien — weder Menschen, die Zeit noch unendliche Weiten.