Übersetzung: Thomas Klein, Werner Widrat
Iljá fand nur schwer heraus aus dem Waldesdickicht. Verbissen schien es sich an seiner Beute festzukrallen. Dünne Zweige und winzige Ästchen hatten sich störrisch in Hemd und Haaren verheddert, Spinnweben ihn in ihr raffiniertes Fangnetz eingesponnen. Schließlich gelang es ihm, dem undurchdringlichen Wald fürs erste zu entkommen.
Jeden der klebrigen Spinnwebfäden klaubte er buchstäblich einzeln ab, schüttelte sich Blätter und Mulch aus dem Haar. Endlich hob er seinen Korb mit den Himbeeren vom Gras auf und blickte in die Runde, ratlos, welche Richtung er nehmen sollte. Das hier von Windbruch gezeichnete dichte Waldstück drehte sich im Kreis. Ilja spähte kurz nach rechts, dann nach links und ging geradeaus weiter.
Inzwischen brach die Dämmerung über dem Wald herein.
, Hm, also doch verlaufen!‘ wurde ihm seine Lage klar. Aber das schreckte Ilja kein bißchen. Diesen Wald kannte er wie seine Westentasche. Gleich wird doch eine vertraute — markante — Stelle aufscheinen — der kleine See, die Quelle, der einsam in der Landschaft stehende Baum oder der bekannte Ameisenhaufen. Vorerst aber hielt er vergeblich danach Ausschau. Dafür wurde er von einem jähen Donnergrollen derart überrascht, daß es ihn heftig zu Boden warf. Ein bedrohliches Donnerrollen kündigte ein schweres Gewitter an, das sich just in diesem Moment direkt über ihm zu entladen anschickte. Was für ein Pech heute aber auch!
Bis auf die Knochen durchweichen wollte Ilja auf gar keinen Fall. Drum suchte er mit schweifendem Blick die Gegend nach einem Unterschlupf ab. Genau in dem Moment schien durch das trübe Zwielicht des Waldes ein helles Lichtlein auf! Ilja hastete durchs Gestrüpp, so schnell er konnte. Bei dem Anblick einer Lichtung und einer Hütte darauf blieb er verwirrt stehen: Wohin hat es ihn hier verschlagen?! Nie zuvor war ihm dies Anwesen aufgefallen. Eh' er sich’s versah, schlugen erste Tropfen gegen die Blätter, und mit einem Satz war Ilja an dem Haus und duckte sich unter dessen niedriges Vordach. Der stehenden Regenwand ist er um ein Haar zuvorgekommen.
«Donnerlittchen! Wo kommst du denn her, kleiner Süßer?!» wandte sich die Frau des Hauses auf das Türenklappen hin vom Ofen her zu ihm um. «Darf ich reinkommen, liebes Mütterchen?» grüßte und bat er sie um Einlaß. «Ich würd' bei Euch gern das Gewitter abwarten.»
«Aber freilich, mein Lieber! Dieser Schlingel! Guck ihn dir an, wie er peitscht. Da wärst du im Nu klitschnaß - bis auf die Knochen» säuselte sie mit ihrer lieblich klingenden Stimme. «Komm schon rein, du unverhoffter, sehnlichst erwarteter teurer Gast» wischte sie mit der Schürze den Staub von der Sitzbank an der Wand. «Bist sicher müde vom Laufen, gel?»
«Ich heiße Ilja» antwortete unser lieber Held und sah sich in der Stube um.
Das ganze Haus hatte nur ein Zimmer. Am Fensterpfeiler stand ein Tisch. Außerdem gab es hier noch eine große geräumige Truhe und allerlei Hausgeräte. Viel Platz nahm der Ofen mit dem Rauchabzug ein. Auf dem Blech davor war ein gußeiserner Kessel abgestellt. Im Ofenkasten lag Reisig. Gegen die Wand lehnten Feuerzangen, ein Schürhaken und ein hölzerner Schieber. Mit so einem Ding holten Bäckersleute die fertigen Brote aus dem Ofen. Das hat Ilja im Kino gesehen.
«Na, und mich rufen sie Mütterchen Arína» sagte die Gastgeberin mit einem Blick in seinen Korb: «Ach nee, wo hat’s uns denn hier hingewedelt? Doch nicht etwa zum Mückenlandeplatz?!»
«Woher wißt Ihr das?»
«Was gibt’s da viel zu wissen. Schau doch nur mal in dein Körbchen. Heuer sind die Himbeeren prächtig und strotzen vor lauter Saft. Aber das da in deinem Korb ist ja alles Matsch und verdorben.»
Bei dem, was er darin sah, erschrak er in der Tat. Lauter zermatschte, mikrige Beeren, noch dazu mit Unrat vermengt. Wie kommt das? Endlich aus dem Dickicht heraus hatte er sich noch über die herrlich großen saftig-rubinroten Beeren gefreut. Als habe sich jemand einen Scherz erlaubt und ihm diese Blamage untergejubelt.
«Mußt nicht traurig sein, Süßer. Das läßt sich richten. Aber von wem diese Streiche kommen, ist bekannt.»
«Von wem?» verstand Ilja nicht recht.
«Von wem schon — von Samanícha natürlich. Diesem verführerischen Luder läuft man lieber nicht übern Weg. Sie hat tierischen Spaß daran, den Menschlein mit ihren Streichen die Sinne zu vernebeln, sie zu verwirren und abzulenken. Pfui Deibel, was ist daran lustig?! Und für ihre Hütte findet sie ausgerechnet am Mückenlandeplatz Gefallen. Das ist kein geeigneter Ort zum Wohnen.»
«Eigentlich ist mir unterwegs niemand begegnet» hatte Ilja seine Zweifel.
«Auch gut, wenn du keinen gesehn hast» war’s die Alte zufrieden.
Mittlerweile hatten das Gewitter sich verzogen und der Sturzregen nachgelassen. Die Wassertropfen peitschten schon nicht mehr ins Gezweig, sondern perlten an den Blättern herab. Ganz nebenbei wäre man bei einem Gang durch den Wald jetzt auch ohne Guß sofort durchnäßt. Von überall tropft es einem übern Scheitel bis zur Sohle.
«Übernachten kannst du bei uns, Süßer» konnte sie anscheinend Gedanken lesen. «Alles naß draußen, und dunkel wird es auch schon. Aber was soll’s, morgen gibt’s Mützenwetter. Da wärmt die liebe Sonne von ganz früh an wieder Wald und Flur. Auf trocknen Wegen geht es sich allemal beschwingter. Wenn du dich immer fein nach der Sonne richtest, kommst du sicher ans Ziel. Ach ja, dann zeig' ich dir noch ‘n richtiges Beerenparadies, gar nicht weit von hier. Oder sind sie zu Hause beunruhigt?»
«Nee, da gibt es eher keinen Grund für…»
Dennoch — es behagte Ilja wenig, unter einem fremden Dach zu nächtigen. Aber schließlich lockte ihn die Aussicht, sich in dem feuchten Wald den Tod zu holen, noch weniger. Einstweilen wußte er nicht, was ihm lieber war.
«Also bleibste!» freute sich Mütterchen Arina. «Guck ausm Fenster. Bei Lichte schaffst du es eh nicht mehr bis nach Hause.»
Prompt blaute die Luft in der Abenddämmerung auf. Ilja seufzte und entschied, daß er am allerwenigsten in dem dunklen Wald herumirren wollte. Warum sollte er? Zu Hause erwartete ihn heute niemand zurück: Die Eltern holen Sláwka aus dem Sommerferienlager ab. Dann sind sie noch bei der Großmutter und kommen erst morgen heim.
«Wenn Ihr erlaubt, bleib' ich doch lieber bei Euch» ging er auf ihr Angebot ein.
«Ach wie schön! Weißt du, Gäste haben wir selten. Du mußt also nicht denken, du könntest uns zur Last fallen, ganz im Gegenteil: Wir freuen uns über deine Gesellschaft» blitzte es in ihren Augenwinkeln wohlwollend auf., Wer — wir?‘ schwirrte ihm gerade noch durch den Kopf, als Arina auch schon tirilierte: «Na ich und mein Enkelkind».
Ilja vernahm flink über hölzerne Stufen trippelnde nackte Füße und die Tür weit aufgehen. Aus dem Hausflur wandelte etwas Formlos-Poltriges ins Zimmer herein. Es entpuppte sich als eine junge Maid, schälte sich aus einem großen Wettermantel und starrte Ilja vor heller Verwunderung an.
«Ooh! Wer ist denn das?» prustete das junge Mädchen auf einmal amüsiert los.
«Manjáschka!» sagte Arina vorwurfsvoll. «Wir haben einen Gast.»
«Huch, was du nicht sagst!» musterte das junge Ding Ilja ungeniert, was den anfangs in Verlegenheit brachte. Ja, es erzürnte ihn sogar.
«Und was machen wir mit ihm? Kochen oder roh verspeisen?»
Da brabbelte Ilja für ihn selbst ganz überraschend: «Als ob Ihr nicht wüßtet, was man mit Gästen macht?! Natürlich bewirten und ein Nachtlager für sie herrichten.»
Die junge Maid lachte so aus dem Bauch heraus, daß Iljas Ärger im Nu verflog und er gar ein Lächeln für sie übrighatte.
«Menschenskind, paß bloß auf, daß aus dir nicht ein fader Abklatsch der Samanicha wird. Am Ende wirst du zur Waldnymphe oder zum reinsten Schreckgespenst mit einer finsteren Seele.»
Hier übermannte Ilja der Schlaf. Mütterchen Arinas singender Tonfall wiegte ihn in einen süßen Schlummer, die Augen fielen ihm langsam zu…
«Hastn ganz benommen gemacht — unsern Gast» hörte er sie noch sagen. «Hast du gehört? — bewirten und zu Bett bringen unsern verwegenen Burschen!»
Geschickt stellte ihre junge Enkeltochter Suppenschüsseln auf den Tisch, schnitt dicke Scheiben von dem Laib Brot ab und verfolgte währenddessen Ilja mit spöttisch-schelmischen Blicken. Dem wiederum wollte es scheinen, als verströmten ihre Augen ein ungeahntes, gleichsam verheißungsvolles Licht von reinen Tönen; und das ganz deutlich, wenn man nur hinsah! Indes erlag Ilja seinem Schlafbedürfnis nun vollends. Hinterher konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern, womit sie ihn beköstigt, geschweige denn, worüber sie beim Abendessen geredet haben.
Mütterchen Arina richtete ihm auf der Truhe seine Bettstatt her. Im Halbdämmer hörte Ilja sie noch zetern: «Da hast du deine Späße! Och, du Luder, eine Tracht Prügel hättest du verdient, mit der Rute immer drauf auf die eine Stelle! Was mußt du den armen Kerl um seinen Verstand bringen, wo er doch aus menschlichem Fleisch und Blut ist?!»
«Ach, Omilein, an gar nichts wird er sich erinnern! Du hast ihn doch schläfrig gemacht!»
«Das tut doch nichts zur Sache. Es läuft aufs selbe hinaus: Sein Leben lang wird es ihn umtreiben.»
Ilja wurde von lauten Trillern der Vögel geweckt. Er setzte sich auf und sah sich verwirrt um: weit und breit nur Wald — in der Morgensonne erwachend. Neben ihm stand sein Korb. Er rieb sich die Augen und konnte es nicht fassen. Der war randvoll gefüllt mit großen wie frischgepflückten Beeren, ja sogar mit einem Berg darauf.
Aber wo war das Haus, in das er sich vor dem Gewitter geflüchtet hatte? Wo waren Mütterchen Arina und die Schelmin Manjaschka? Und die Gespräche über Samanicha, den Mückenlandeplatz hat er vielleicht nur im Traum belauscht? Na, und der Korb mit den zermatschten Beeren — wo war der abgeblieben? Noch einmal riskierte er einen Blick hinein. Und tatsächlich klingelte es ihm im Ohr, als sagte soeben jemand, saftstrotzend‘. Woher mit einemmal solche Wörter, die er früher nie zu hören bekam:, Morgen gibt’s Mützenwetter…‘
Lange erzählte Ilja niemandem von seinem Abenteuer. Irgendwann vertraute er sich seinem Nachbarn, dem alten Tarás, an. Gemeinsam liebten sie es, mit der Morgenröte angeln zu gehen. Er erzählte ihm auch von den vermoderten Balken — den Resten der einstigen Behausung -, die er dort im hohen Gras verstreut herumliegen gesehen hat.
Der alte Taras sagte darauf nach einer Weile: «Klingt nach Mückenlandeplatz… Den gibt es, ja. Kein schöner Ort, man verläuft sich dort, als ob einem die Sinne benebelt würden. Drum machen die Leute einen großen Bogen um ihn. Bloß gut, daß das weit weg von hier ist. Von den Trümmern und Ruinen hab' ich auch gehört. Dem Gerede nach soll es dort spuken.»
«Wie — spuken?»
«Na spuken eben, was weiß ich.»
Mehr war aus dem alten Taras nicht herauszukriegen. Doch ließen Ilja die Gedanken an sein merkwürdiges Nachtlager keine Ruhe. Immer wieder begab er sich an die Stelle mit der Lichtung: Auf der Suche nach einer Antwort, was sich mit ihm hier ereignet hat, nahm er die modernden Balken eindringlich in Augenschein. Träumte er das nur? Oder ist es wirklich geschehen? Und die Trümmerreste — stammten die wirklich von der Hütte? Oder war er an jenem Abend auf einer Zeitreise in die Vergangenheit? Oder gibt es nicht den geringsten Zusammenhang zwischen all diesen Dingen — Trümmern, Hütte und der Alten mit ihrer Enkeltochter? Fragen über Fragen und keine einzige Antwort! Das beunruhigte ihn. Wieder hörte er Arina der Enkelin prophezeien: «Ein Leben lang wird es ihn umtreiben!»
Und es begleiten Ilja seit dem wunderbare Träume. Zuweilen vermöchte er zu spüren — beinah schon im Halbschlaf -, wie ihn ein unfaßbares Licht durchdringt, das so rein tönt und hell wie jungfräuliches Lachen. Es ward ihm zur wahren Freude und Sinneslust, immer wenn er in den Schlaf sank und zu träumen anfing. Das waren echte Traumreisen… in die Vergangenheit und Zukunft, in die Welt der Märchen, der Geheimnisse, zu unbekannten fernen Planeten und Galaxien oder in unglaublich faszinierende Phantasiewelten. In jenen Träumen ließen sich auf jegliche Fragen Antworten finden. Nur des Morgens dann vergißt Ilja sie eben gleich wieder und kann sich an so gut wie nichts erinnern.